Homosexualität im Islam hat zahlreiche Aspekte, je nachdem, ob damit Homoerotik (beispielsweise in der Dichtung muslimischer Völker) oder sexuelle Beziehungen und Handlungen zwischen Männern oder zwischen Frauen gemeint sind. Die rechtliche Bewertung dieser Aspekte fällt in der islamischen Rechtswissenschaft, dem Fiqh, unterschiedlich aus. Diese Bewertung veränderte sich im Laufe der Geschichte in sozialer Hinsicht; die Praktik gleichgeschlechtlichen, sexuellen Verkehrs bei Männern sowie Frauen gilt nach konservativer Interpretation im islamischen Recht als „illegitimer Geschlechtsverkehr“ (Zinā, Unzucht).
Geschichte[]
Nach Aussage des Islamwissenschaftlers Thomas Bauer ist der Islam mehr als tausend Jahre tolerant mit homosexuellen Menschen umgegangen. Bauer betont, dass sich in der arabisch-islamischen Kulturgeschichte zwischen etwa 800 und 1800 „keine Spur von Homophobie“ feststellen lasse.[1] Aus der islamischen Literatur sind zahlreiche homoerotische Gedichte überliefert. Laut Bauer habe erst im 19. Jahrhundert der Westen im Zuge der Kolonialisierung den „Kampf gegen den unordentlichen Sex“ im Nahen Osten eingeführt. Vor dem Jahr 1979 sei in tausend Jahren kein Fall im islamischen Nahen Osten und in Nordafrika bekannt, in dem ein Mann aufgrund einvernehmlichen Geschlechtsverkehrs mit einem anderen Mann strafrechtlich angeklagt worden sei.[1] Die Auffassung Bauers wird im Wesentlichen von Mounir Baatour geteilt, dem Vorsitzenden von Shams, der ersten tunesischen Organisation, die sich für die Rechte von Homo-, Bisexuellen und trans*Personen einsetzt: „In Tunesien ist Homosexualität erst seit 1913 unter Strafe gestellt: Es waren die Franzosen, die den entsprechenden Paragraphen 230 einführten. Als sie Tunesien kolonisierten, brachten sie ihre Homophobie mit. Dann sind sie wieder abgezogen, doch die Homophobie blieb... Im Islam gibt es keinen einzigen authentischen religiösen Text, der Homosexualität unter eine konkrete Strafe stellt.“
Effeminierte Männer, maskuline Frauen und Transvestitismus[]
An einer einzigen Koranstelle, nämlich Sure 24, Vers 31, lässt sich ein Ausdruck („solche von ihren männlichen Dienern, die keinen Geschlechtstrieb haben“)[2] möglicherweise auf „effeminierte Männer“, die Muchannathūn (muḫannaṯūn), deuten, so etwa in einem oft zitierten Ḥadīth, während andere Ausleger eher an altersschwache Diener („die keinen Trieb mehr haben“), Geistesschwache, Eunuchen usw. denken. Das Phänomen der männlichen Effeminiertheit (taḫannuṯ), sowie parallel das der „maskulinen Frauen“, welche beide oft mit Transvestitismus einhergehen, hat jedoch nur bedingt mit Homosexualität zu tun.
Richtungen innerhalb des Islams[]
Alle islamischen Rechtsschulen lehnten homosexuelle Handlungen in der Vergangenheit als sündhaft ab. Homosexueller Geschlechtsverkehr gilt nach konservativer Auslegung als Unzucht (Zina). Umstritten ist innerhalb dieser Schulen, welche Art von Strafe in unterschiedlichen Fällen zu verhängen war. Die Meinungen reichten von Auspeitschung bis zur Todesstrafe (siehe oben).
Islamische Gutachten der einzelnen Rechtsschulen in den letzten Jahren zum Thema Homosexualität sind kaum vorhanden. Eine Minderheit islamischer Organisationen und Einzelpersonen vertreten einen liberalen Islam und bewerten homosexuelle Handlungen nicht als eine Sünde. Zu nennen sind beispielsweise Al-Fatiha (1998–2011) in den USA, die durch den Imam Muhsin Hendricks 1998 in Südafrika gegründete Al-Fitrah[3] und die 1998 in England gegründete Organisation Imaan (= īmān, „Glaube“).[4] Im Jahr 2008 hatte Imaan etwa 300 eingetragene Mitglieder. Anlässlich des zehnjährigen Bestehens veranstaltete Imaan vom 17. bis zum 19. Oktober 2008 eine Konferenz für schwul-lesbische Muslime, an der Vertreter aus dem Vereinigten Königreich, den Vereinigten Staaten, den Niederlanden, Kanada, Frankreich, Deutschland, Norwegen, Iran, Libanon, Pakistan, Türkei und Uganda teilnahmen.[5][6]
Gegenwärtige Situation in islamisch geprägten Staaten[]
Homosexualität wird in islamisch geprägten Ländern verschieden bewertet und von Seiten des Staates rechtlich unterschiedlich eingestuft. Eine staatliche Anerkennung von homosexuellen Paarbeziehungen gibt es gegenwärtig in keinem islamisch geprägten Staat.
Nicht verboten sind homosexuelle Handlungen in den islamisch geprägten Ländern Albanien, Aserbaidschan, Bosnien und Herzegowina, Indonesien, Jordanien, Irak, Kasachstan, Kirgisistan, Mali, Niger, Tadschikistan, Libanon, Bahrain, Dschibuti, Guinea-Bissau, Burkina Faso und der Türkei sowie in den nicht vollständig international anerkannten Staaten Kosovo, Palästina (Westbank) und Türkische Republik Nordzypern.
In den meisten islamisch geprägten Staaten werden homosexuelle Handlungen mit unterschiedlich hohen Haftstrafen verfolgt. Hierzu gehören die Staaten Afghanistan (gegenwärtig keine staatliche Hoheit), Algerien, Ägypten, Bangladesch, Gambia, Guinea, Komoren, Katar, Libyen, Malaysia, Malediven, Marokko, Oman, Pakistan, Senegal, Somalia (gegenwärtig keine staatliche Hoheit), Syrien, Tschad, Tunesien, Turkmenistan und Usbekistan.
Die Todesstrafe droht in acht islamischen Ländern: Brunei, Iran, Nigeria (nördliche Landesteile), Mauretanien, Sudan, Jemen, Saudi-Arabien und Vereinigte Arabische Emirate.[7]
Gegenwärtige Situation in Staaten mit muslimischen Migranten[]
In muslimischen Migrantengemeinschaften in Europa wird das Thema Homosexualität selten offen angesprochen und meist als Thema betrachtet, das für die Kultur der Mehrheitsgesellschaft und nicht der Migrantengemeinde relevant ist.[8] In einer repräsentativen Umfrage der Info GmbH unter Türken in Deutschland im August 2012 äußerten 51 Prozent der Befragten die Überzeugung, dass Homosexualität eine Krankheit sei.[9] Eine aktuellere Untersuchung von 2015 zeigt aber auch, dass 61 % der Muslime in Deutschland die Homoehe befürworten.[10] Im Jahr 2017 unterstützen rund 60 % der Muslime in Deutschland die gleichgeschlechtliche Ehe.
Manche Migrantenorganisationen haben Position bezogen, um Antidiskriminierungsgesetze, die auch für sexuelle Orientierung gelten, zu unterstützen. Der Türkische Bund in Berlin erklärt im April 2010, dass homosexuelle Menschen vor Diskriminierungen zu schützen sind.[11] Ebenso setzt sich der Generalsekretär des Zentralrats der Muslime, Aiman Mazyek (trotz persönlicher und religiöser Ablehnung der Homosexualität) für einen Diskriminierungsschutz homosexueller Menschen ein.[12] Die queere Migrantenorganisation GLadT hat sich ausführlich mit der Situation queerer muslimischer Migranten in der Bundesrepublik Deutschland auseinandergesetzt;[13] der Wissenschaftler Zülfukar Çetin hat sich in einer umfassenden Studie mit rassistischer Diskriminierung gegenüber schwulen Migranten in der Bundesrepublik Deutschland befasst.[14]
Einzelnachweise[]
- ↑ 1,0 1,1 Humanistischer Pressedienst: Islam tolerierte Homosexuelle über Jahrhunderte
- ↑ Adel Theodor Khoury, Der Koran. Arabisch-Deutsch. Übersetzung und wissenschaftlicher Kommentar, Band 10, Gütersloh 1999, S. 36 und 51; Andreas Ismail Mohr: „Wie steht der Koran zur Homosexualität?“, in: LSVD Berlin-Brandenburg e.V. (Hrsg.): Muslime unter dem Regenbogen. Homosexualität, Migration und Islam. Berlin: Querverlag, 2004, S. 20–21.
- ↑ Homepage der Al-Fitrah Foundation
- ↑ Homepage und Twitter-Account von Imaan
- ↑ Organisers delighted at success of LGBT Muslim conference pinknews.co.uk, 24. Oktober 2008.
- ↑ London: Konferenz für schwul-lesbische Muslime queer.de, 26. September 2008.
- ↑ Queer.de: UN ist entsetzt. Brunei führt Todesstrafe für Homosexualität ein, 15. April 2014
- ↑ Inayat Bunglawala: Gay Muslims need support theguardian.com. 5. Oktober 2009.
- ↑ Liljeberg Research International: Deutsch-Türkische Lebens- und Wertewelten 2012. Ergebnisbericht zu einer repräsentativen Befragung von Türken in Deutschland, Juli/August 2012, S. 73.
- ↑ https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/presse-startpunkt/presse/pressemitteilungen/pressemitteilung/pid/muslime-in-deutschland-mit-staat-und-gesellschaft-eng-verbunden
- ↑ Türkischer Bund: TBB und LSVD kritisieren Sachverständigen von CDU/CSU
- ↑ Queer.de: Zentralrat der Muslime fordert Homo-Schutz im Grundgesetz
- ↑ GLADT: Religion und Homosexualität im Kontext von Rassismus (PDF; 269 kB)
- ↑ Zülfukar Çetin, Homophobie und Islamophobie: Intersektionale Diskriminierungen am Beispiel binationaler schwuler Paare in Berlin, Transcript Verlag, Bielefeld 2012.